Luis Stabauer

Ignoranz – Spaltung – Zerfall (15. November 2021)

NÖ, wahrscheinlich auch OÖ und Salzburg: Einige Patient’innen der Hauskrankenpflege großer Sozialorganisationen können in den nächsten Tagen nicht mehr betreut werden. Wie werden sie ihr Leben bewältigen?

Die Landeshauptleute dieser Bundesländer haben ihre Verantwortung nicht wahrgenommen! Die PCR-Tests für die Arbeitnehmer’innen werden nicht ausreichend zur Verfügung gestellt oder können nicht rechtzeitig ausgewertet werden. Die Bundesregierung hat dies wissen müssen, sie haben es nicht berücksichtigt.

Das Ergebnis: Beschäftigte, die sich (aus welchen Gründen auch immer) nicht impfen lassen, kommen vor Arbeitsbeginn zu keinen gültigen PCR-Tests. Da sie keinen Urlaub bekommen werden, melden sie sich krank oder kündigen. Die politische Verantwortung tragen die betroffenen Länder und die Bundesregierung gemeinsam. Dass es anders geht, ist am Beispiel Wien nachzuvollziehen.

Die persönliche Verantwortung kann und darf nicht übersehen werden. Wenngleich die Gründe der Impfgegner’innen äußerst unterschiedlich sind, die medizinischen seien hier explizit aus der Verantwortung ausgenommen, eines dürfte sie meiner Einschätzung nach schon länger einigen, die Ignoranz gesellschaftlicher Missstände: Die Zerstörung der Umwelt aus Profitdenken, die Plastifizierung der Lebensmittel aus denselben Gründen, die Waffenproduktionen, … bis hin zur Pharmaindustrie, die seit Jahrzehnten vorgibt, für die Gesundheit der Menschen einzutreten, in Wahrheit aber ebenfalls nur die Gewinne und die Aktienkurse als Antreiber hat, wurden auch von den Impfgegner’innen hingenommen. Wo waren sie? Alle Daten und die Hintergründe sind seit Jahrzehnten bekannt. Was treibt sie gerade jetzt an? Warum sind gerade ihnen die sozialen Auswirkungen der Pandemie nicht wichtig genug, um eigene Befürchtungen zurückzustellen?

Wir sind in eine gefährliche Spaltung geschlittert, ich will sie nicht und ich will mich bemühen, die medizinischen Argumente derer zu verstehen, die wirklich über ihren Körper selbst entscheiden wollen.

Wenn wir aber beginnen und zulassen, dass Patient‘innen der Hauskrankenpflege (aber auch in den Spitälern, Pflegeheimen, …) keine Hilfe mehr geleistet werden kann, lassen wir es zu, dass der Zerfall der Gesellschaft beginnt.

24. Oktober 2018, nach einer Beobachtung in der Naglergasse, 1010 Wien:

Glock in der Naglergasse, ein Dramolett

Im Restaurant: ein freundlicher Kellner - K, ein Gast – G wartet am Tisch, ein grinsender Politiker – P mit Stock tritt ein.

K: Guten Tag Herr Ingenieur, darf ich Sie höflichst auf unsere Hausregel in Sachen Waffen aufmerksam machen?

P: Guten Tag, ich freu mich so, dass Sie mich begrüßen. Aber, hm, ah, wieso glauben Sie, wieso sprechen Sie gerade mich wegen Waffen an, was hat das mit mir zu tun? Sie kennen mich doch.

K: Natürlich kenne ich Sie, und ich habe von Ihnen selbst gehört, dass Sie eine Glock tragen. Ich bitte Sie nur, geben Sie mir unauffällig Ihre Glock, wir verwahren sie für Sie.

P: Mein Herr, Sie sind gerade dabei ein schweres Foul zu begehen, Sie sehen ja, dass ich mich mit meinem Stock kaum wehren könnte. Hier nehmen Sie mein persönliches Eigentum. Ist mein Gast bereits anwesend?

K: Ja, der Herr erwartet Sie bereits. Ich denke, er ist aus der Rotlichtszene. Ist Ihr Revolver geladen?“

P: Das ist eine Pistole. Sie ist gesichert. Und mein Gast ist ein angesehener Jurist. Seien Sie mit Ihren Äußerungen etwas vorsichtiger.

K: Danke, warten Sie bitte einen Moment ich bringe Sie gleich zu ihrer Reservierung. …

K: Bitte sehr, diese schöne Nische habe wir für Sie reserviert.

Der Gast springt auf, legt kurz seine Rechte ans Herz und begrüßt den Politiker freundschaftlich.

G: Ich danke dir für dein Angebot. Danke. Diese Kampagne der Links-Linken gegen meine Besetzung als Verwaltungsrichter war unerträglich, aber vielleicht können wir unsere Strategie in deinem Bereich ohnehin besser umsetzen als in der Justiz.

P: Klar, mein Lieber, ich bin so froh, dass du zu mir kommen willst. Nur noch eine Kleinigkeit. Ich habe mir eben für dich noch einen kleinen Aufnahmetest überlegt. Bist du bereit?

G: Klar, schieß los. Bei deinem Lächeln kann das nicht so schlimm werden.

P: Schießen ist gut.
Der Kellner hat mir nach dem Eintreten meine Glock abgenommen, obwohl ich ihn freundlichst angelächelt hab. Das ist eine Frechheit. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. Kannst du mir meine Glock zurückbringen?

G: Klar,

Herr Ober! ... Darf ich Sie als Jurist etwas fragen? …

Haben Sie draußen in der Naglergasse diesen schwarzen Mann mit der Pistole gesehen?

K: Ja, mein Herr, ich sehe ihn täglich.

G: Gut. Der Mann ist auch für Ihre Sicherheit auf der Straße. Er trägt seine Glock offen am Gürtel. Dies ist Waffenscheinbesitzern per Gesetz ausdrücklich erlaubt. Sie wissen, wem Sie vorhin ohne jeglichem Recht seine Glock abgenommen haben! Er hat ebenfalls einen Waffenschein und auch er könnte sie offen tragen.

Wenn Sie keine Anzeige wegen Nötigung riskieren wollen, bringen Sie dem Herrn unverzüglich seine Glock zurück. Unverzüglich und offen! Haben wir uns verstanden?

Der Ober senkt den Kopf und verschwindet im Nebenzimmer.

P: So mag ich das. Danke. Ich habe gewusst, was mit meinem Lächeln alles gehen wird. Du wirst meine Abteilung hervorragend leiten. Willkommen im Team. Heil dir!

Am Ostersamstag 2018 habe ich den Film "Murer - Anatomie eines Prozesses" gesehen
wieder einmal betroffen von einem Schandfleck Österreichs, der Nachkriegsjustiz über NS-Verbrecher.

Der Fall Murer: Rosen für den Mörder, nahm Herbert Lackner als Titel im Profil und schrieb unter anderem:

„Alle Blumengeschäfte nahe des Grazer Gerichtsgebäudes waren leergekauft. "Blumenstrauß um Blumenstrauß wurden ihm überreicht, als er sich den Weg zum Auto bahnte", schrieb ein Augenzeuge der Szene. Am Steuer des vorgefahrenen Mercedes, der Franz Murer an einem Junitag des Jahres 1963 nach Hause brachte, saß sein Freund Richard Hochrainer, der kurz zuvor in einem fragwürdigen Prozess vom Vorwurf der Anstiftung zum neunfachen Judenmord freigesprochen worden war. …“

Die jüdischen Zeugen wurden nicht nur vom ausgezeichnet gespieltem Verteidiger verhöhnt, real war – ist? es das Nachkriegsösterreich. Franz Murer, der „Schlächter von Wilna“ wurde freigesprochen. Die ÖVP hat interveniert, Christian Broda scheint mitgemacht zu haben und spätestens zu diesem Zeitpunkt bin ich auch bei meinen Roman-Recherchen über Brodas Schutz von Heinrich Gross. Es ist kaum zu ertragen, dieses Nachkriegsösterreich. Der Kreis schließt sich mit dem Sohn Franz Murers, FP-Nationalratsabgeordneten und Staatssekretär unter Sinowatz und Vranitzky, Gerulf Murer. Die nächste und übernächste Generation sitzt jetzt im Nationalrat und in der Regierung. Sie brauchen die SPÖ nicht mehr, die ÖVP hat sie emporgehoben, Österreich hat sie gewählt. Burschen- oder Mädelschaften sind ihre neue und alte Heimat. In einer Stimmung irgendwo zwischen Schauder, Wut und Traurigkeit gehe ich aus dem Kinosaal. Wo bleibt Österreichs Auf(er)stehung?

 

31.Oktober 2017 schwarz-blaue Geister treten auf

„Sicherheit, Ordnung und Heimatschutz“ heißt eine Generalüberschrift der schwarz/blauen Regierungs-Verhandler!

Ich lasse mir weder die Heimat, noch den Begriff Heimat wegnehmen!

Den Begriff Heimatschutz lasse ich ihnen, sie verwenden ihn ganz offensichtlich in trauter Einigkeit!
Hier ein historischer Abriss zum Heimatschutz (Beispiel aus der Steiermark):

" … Das Abzeichen des Steirischen Heimschutzes war ein steirisches Landeswappen (der Panther) mit übergestülptem Stahlhelm mit Hakenkreuz. …

… Besonderen Ausdruck fand der immer aggressiver werdende, gegen die Sozialdemokratie gerichtete Konfrontationskurs im Alpine-Bereich durch die Gründung einer heimatschutznahen, „gelben“ Gewerkschaft. …

… Ein weiteres Mittel im Kampf gegen die sozialdemokratisch und freigewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft war die im Mai 1928 ins Leben gerufene Unabhängige Gewerkschaft, die zwar vorgab, eine überparteiliche und unpolitische Interessensorganisation zu sein, aber personell, ideologisch und infrastrukturell eng mit dem Heimatschutz verbunden war. Die Gründer Josef Lengauer, Fritz Lichtenegger und Ingenieur Josef Oberegger, alle drei bei der Alpine bedienstet, waren Heimatschützer. Lengauer kam 1930 als Abgeordneter des Heimatblocks, „der parlamentarischen Kampftruppe der Heimatwehr“, in den Nationalrat. (Dem Heimatblock war es im Wahlkreis Obersteiermark gelungen, das so wichtige Grundmandat zu erringen.)
Zentral für die Ideologie des Heimatschutzes (und der Unabhängigen Gewerkschaft) war die Ablehnung von Parteiensystem, Parlamentarismus und Klassenbegriff; dem stellte man die Idee einer ständisch gegliederten Volksgemeinschaft gegenüber – auf den Industriebereich übertragen hieß das: Werksgemeinschaft.
Die Unabhängige Gewerkschaft verstand sich laut Eigendefinition als
„Zweckverband von Arbeitnehmern mit der Aufgabe, eine möglichst gerechte Verteilung des Nutzerfolges der von einem Volk als Wirtschaftseinheit geleisteten Arbeit durchzusetzen, wobei der Erfolg umso größer wird, je weniger Störungen der Arbeit erfolgen“.
Ohne explizit auf dieses Mittel zu verzichten, rückte die Unabhängige Gewerkschaft damit vom Streik als Instrument der Interessenspolitik ab. Gerade das war voll im Sinn der Alpine-Werksleitung. Diese übte ihren Einfluss ganz direkt aus, indem sie die Einstellung von durch den Heimatschutz vermittelten Arbeitern bevorzugte, während man sozialdemokratische Arbeiter nach und nach verdrängte."

Aus der Diplomarbeit „Struktur und Dynamik des illegalen Nationalsozialismus in der obersteirischen Industrieregion 1933/34“ von Kurt Bauer, Universität Wien.

 

9. November 2016, Journaleintrag
Aufgestanden, hingehört, an Ronald Reagan und den dummen, bis gefährlichen Rüstungswettlauf gedacht: Der Neoliberalismus schlägt wieder zu, zeigt mit der US-Wahl seine schlimmste Fratze, die bewusste Irreführung der Massen, indem ihnen vorgegaukelt wird, dass andere Schuld sind (Mexicaner, Flüchtlinge überhaupt und, ...), dass Frauen tendenziell dumm sind, und dass der Staat der Verursacher ihrer Probleme ist. Die wahren Schmarotzer, Steuerflüchtlinge, die Superreichen bleiben hinter dem Vorhang.

Unterstütz wird alles von neuen Scheinwelten in virtuellen Netzen und von scheinbaren, persönlichen Wichtigkeiten durch den ständigen Kontakt über smartphones. Die persönlichen Beziehungen, das sich in die Augen schauen, das direkte Kommunizieren gehen immer mehr verloren. PolitikerInnen und öffentliche Institutionen werden auch bei uns neue Feindbilder, werden bewusst schlecht gemacht (konstruktive, berechtigte Kritik ist nicht ihr Mittel) und täglich schüren die neoliberalen Statthalter, die Straches, Hofers, Lopatkas, ... die Ängste der Massen, bis zur Abkehr demokratischer und humanistischer Grundvereinbarungen. Die Resonanzbeziehung einer klaren Mehrheit mit der Demokratie und damit mit unserer europäischen Welt ist in Gefahr. Ich bin erschüttert. Trotzdem hoffe ich auf eine österreichische Abkehr von dieser Misere, hoffe auf den 4. Dezember.

 

Leidensweg in 14 Stationen

Sie weinten bitterlich

Da war einer seiner Zeit voraus. Auch im Irrtum. Er glaubte zu wissen, wohin er segelte, suchte einen Weg nach Indien, um neue Schätze zu suchen. Fragen hatten ihn angetrieben, die Antworten wollte er selbst finden. Mit Freiwilligen und mit Unfreiwilligen brach er auf, wollte über das große Wasser fahren. Seine Auftraggeber erwarteten neue Reichtümer, noch mehr Macht. Männer in langen, schwarzen Kutten und mit großen Kreuzen waren an Bord.

Drei unserer Götter sahen sie kommen, über das Wasser aus dem die Sonne steigt. Sie befürchteten Unheil für ihre Völker. Daher beriefen sie eine große Versammlung ein. Am Ölberg wollten sie mit allen die kommenden Gefahren für die Maismänner und Maisfrauen diskutieren, wollten Lösungen suchen. Niemand kam. Alle, die ihnen sonst zugejubelt hatten, die davor immer in ihrer Nähe geblieben waren, sie kamen nicht. Die Drei warteten einen halben Tag, dann knieten sie nieder und weinten eineinhalb Tage und zwei Nächte lang. Die Tränen erreichten die Ozeane. Die Götter wussten keinen Rat.

1.    Station: Wir werden zum Tod verurteilt

Sie landen mit riesigen Schiffen, sitzen auf Ungeheuern, die unentwegt mit ihren langhaarigen Schwänzen schlagen. Sie tragen Stöcke, die Feuer speien. Sie zeigen uns kleine Spiegel und Figuren von ihren Göttern.

Wir bringen ihnen Früchte und Schmuckstücke. Sie haben nur mehr Augen für unser Gold. Wir tauschen. Ist es unser Todesurteil?

2.    Station: Wir schleppen ihre Kreuze an Land

Die mit den langen, schwarzen Kutten wollen uns noch viele Spiegel und Perlenkränze geben, mit denen wir für unsere Gesundheit und für unsere Ahnen beten können. Aber davor müssten wir ihre Kreuze auf unseren Hügeln aufstellen. Wir laden die Kreuze auf unsere Schultern, graben tiefe Löcher und befestigen die Kreuze mit unseren Lianen. Für einige unserer Brüder und Schwestern ist die Anstrengung zu groß. Die Toten werden dafür in einem anderen Leben belohnt, sagen die in den schwarzen Kutten.

3.    Station: Wir fallen zum ersten Mal unter dem Kreuz

Sie sagen, wir haben keine Seele. Und weil wir keine Seele haben, dürfen sie uns schlagen, dürfen sie uns unser Land wegnehmen, dürfen uns als Diener und Sklaven verwenden, und sie dürfen uns wie Hunde erschlagen. Sie beten großen Kreuze an, worauf ein Mann genagelt ist, der angeblich für sie gestorben ist. Sie sagen, dass wir diese Kreuze auch anbeten sollen, und sie versprechen uns eine Seele, wenn wir schwören, nur ihrem Gott zu huldigen. Wir knien nieder und spüren das Kreuz über uns.

4.    Station: Wir erlauben ihnen, unsere Mutter Erde zu verwenden

Sie kommen als Forscher, sagen sie, und unser Land sei ein Paradies. Tomaten, Mais und Kartoffel kennen sie nicht, wir müssen sie für sie anbauen, und sie begleiten uns in unsere Wälder, um die süßesten Früchte zu ernten. Wir füllen damit die großen Bäuche ihrer Schiffe und geben auch Gold dazu. Sie geben uns keine Spiegel mehr. Dafür bauen sie Häuser mit Türmen und Kreuzen. Für uns, sagen sie.

Immer mehr Schiffe mit leeren Bäuchen landen, und sie sagen, dass unser Land jetzt ihr Land sei.

5.    Station: Bartholomäus de las Casas schickt uns schwarze Männer, die uns helfen, die Kreuze an Land zu schleppen

Unsere Brüder und Schwestern sterben zu Millionen. Auf ihren Plantagen, in ihren Bergwerken und in ihren Betrieben. Einer mit schwarzem Kittel sagt, er sei unser Freund und verspricht uns Hilfe durch die spanische Krone. Er schreibt Briefe und wird erhört. Schwarze Menschen kommen und sterben. Sie seien Sklaven, sagen sie, und sie wurden ebenfalls ohne Seele geboren. Wir danken Bartholomäus de las Casas noch immer. Die Schwarzen schleppen mit uns die Kreuze an Land.

    6.    Station: La Gaitana will das Land ihres Volkes nicht teilen. Pedro Anasco ermordet ihren Sohn vor  ihren Augen

Gaitana, du in den Dörfern Gewählte, du Auserwählte, dein Volk vertraut dir. Du hast sie auf Widerstand eingeschworen. Dann haben sie euch am Dorfplatz zusammengetrieben. Der Kopf deines Sohns rollt vor deine Füße. Sie sagen, es sei eine Warnung. Du schreist deinen Schmerz hinaus und schwörst Rache. Der Spanier versteht dich nicht. Jemand aus deinem Volk geht auf den Mörder zu, übersetzt ihm deine Worte. Monatelang jagen sie dich, töten beinahe alle aus deinem Dorf. La Gaitana, du kannst deinen Schwur einlösen. Ihr könnt ihren Anführer ergreifen. Pedro Anasco geht elend zu Grunde.

Dein Denkmal in Neiva ist Erinnerung und Mahnung: Noch immer tauschen wir unser Gold gegen leere Versprechungen.

7.    Station: Wir fallen zum zweiten Mal unter dem Kreuz

Wir haben nicht verstanden, warum unsere „Madre Patria“ („Mutter Vaterland“) die spanische Krone sein soll. Aber die Nachfahren der Eindringlinge aus Europa haben uns erklärt, dass wir uns mit ihnen gegen den Kolonialismus und gegen die spanische Monarchie wehren sollen: Wir ziehen in den Krieg. Sie sagen, dass wir Nationalstaaten gründen müssen, um frei zu sein. Wir kämpfen für ein Vaterland, für Freiheit, Religion und für Privateigentum. Wir tauschen unsere Mutter Erde, unsere Pachamama[1], gegen die Jungfrau Maria, die Mutter ihres Gottes. Wieder tragen wir ihr Kreuz. Wir beten in ihrer Sprache. Viele Tage lang und viele Kilometer weit lang rutschen wir auf unseren Knien zur Heiligen Jungfrau Maria. Das Kreuz steht neben ihr. Es drückt uns zu Boden.

8.    Station: Wir treffen die trauernden Frauen

Kurz nach unserer angeblichen Entdeckung schnitzt Tilman Riemenschneider Seelen in seine trauernden Frauen aus Holz. Sie beweinen den nahen Tod ihres Märtyrers am Kreuz. Tun können sie nichts.

Lange danach kommen auch zu uns Frauen und Männer, die uns bemitleiden. Sie nennen sich die wirklichen Freunde, nehmen uns die Panflöte, die farbigen Stoffe und bilden unsere Gesichter auf neuen Spiegeln ab. Sie sagen, wir seien so schön und sie betrauern unser Elend. Unsere Musik, unsere Webkunst und unsere Gesichter werden unsere Befreiung sein, sagen sie. Sie beweinen uns in Gesprächen, in Zeitungen, in Büchern und in Filmen. Die Trauernden werden immer mehr. Tun können sie nichts.

9.    Station: Wir fallen zum dritten Mal unter dem Kreuz

Langsam beginnen wir, uns zu organisieren. Die wirklichen Freunde erkennen wir an ihrer Solidarität. Neue Nachkommen der weißen Europäer kämpfen mit uns Seite an Seite gegen die Großgrundbesitzer und gegen die neuen Kolonialherren, die inzwischen aus dem Norden des eigenen Kontinents kommen. Wir feiern erste Erfolge, gewinnen sogar Wahlen und stellen Präsidenten. Wir werden ihnen gefährlich. Sie erinnern uns an unser Versprechen, die Nationalstaaten mit militärischen Mitteln zu verteidigen, und sie nehmen uns in ihre Kampfverbände auf. Sie schicken uns heimliche und unheimliche Hilfen aus den neuen Zentren der Macht. Unter unserem nationalistischen Kreuz kämpfen wir jetzt auch gegen neue Ungläubige, gegen angebliche Kommunisten und für die Erhaltung eines freien Marktes, der uns allen diene, wie sie sagen. Wir brechen darunter zusammen.

10.                  Station: Sie nehmen uns unsere Kleider

Viele unserer Brüder und Schwestern arbeiten freiwillig für sie. Manchen erlauben sie sogar, ihre Universitäten zu besuchen. Sie sagen, wir müssen lernen, wie sie zu denken und zu arbeiten, wir dürfen nicht länger unsere Sprachen reden, und wir müssen ihre Gerichte anerkennen. Viele von uns lassen sich das Haar schneiden, ziehen neue Kleider an und versuchen unsere Mütter und unsere Väter zu vergessen. Unsere Kleider und unsere Kultur dürfen wir an Touristen aus aller Welt verkaufen. Sie geben uns Almosen.

Mit alledem geben wir auch unseren Stolz ab. Wir sterben weiter.

11.                  Station: Sie nageln uns fest

Sie erziehen unsere Kinder in ihren Schulen. Sie sagen, dass wir als Sünder geboren wurden und dass wir nach dem Tod nur in das Paradies eintreten können, wenn wir alle unsere Sünden bereuen und wenn wir den einen Gott um Verzeihung bitten.

Wir lernen schnell und bitten täglich um Vergebung. Angesichts des Leidens am Kreuz, sagen sie uns in jeder Messe, dass unsere Unvollkommenheit unsere Schuld sei. Wir glauben und verharren. Wir warten, bis sie uns sagen, was wir tun sollen. Ihre Nägel schmerzen. Wir können uns nicht mehr bewegen. Wir hängen fest.

12.                  Station: Es gibt uns nicht mehr

Wir lieben unsere Mutter Erde, unsere Pachamama noch immer. Damit wir nicht zu ihr beten, haben sie uns die Heilige Jungfrau Maria gegeben. Wir lieben sie mehr als uns selbst. Wir beten sie an, wir tragen sie durch unsere Dörfer. Sie wird uns beschützen. Sie wird uns eines Tages von unserer Schuld befreien. Wenn wir zu unserer Mutter Gottes aufschauen, spüren wir: Wir sind andere geworden.

Wir leiden mit Jesus unter dem Kreuz. Wieviel stärker muss das Leiden der Heiligen Jungfrau sein, die den Tod ihres Sohnes betrauert. Ihr Schmerz ist unser Schmerz. Wir sind andere geworden. Es gibt uns nicht mehr.

13.                  Station: Sie ziehen uns die Nägel heraus

Sie betrachten uns von allen Seiten und stellen unseren Tod fest. Langsam ziehen sie einen Nagel nach dem anderen aus unseren Körpern. Wir wissen nicht mehr, warum wir angenagelt wurden. Wir vergeben ihnen und sagen, dass es unsere Schuld sei, und dass wir nicht aufhören werden zu Jesus am Kreuz und zu seiner Mutter, der Heiligen Jungfrau Maria, zu beten. Wir wissen nicht, ob sie uns noch hören, aber wir warten auf die Erlösung von unserer Schuld.

14.                  Station: Wir stehen auf

Hoch in den Anden, in den Wäldern Amazoniens, in den Hügeln Lacadonas, in den Prärien Nordamerikas, auf den Inseln der Karibik, von Patagonien bis zum Fluss Pio Pio:

Einige von uns leben noch. Mehr als 500 Jahre dauert unsere Immunität. Wir sind frei von eurem schlechten Gewissen. Die Zeit ist gekommen. Wir stehen auf. Wir erheben uns. Es kann gut sein, wir benötigen noch einmal 500 Jahre, aber wir beginnen jetzt.

Brüder und Schwestern, kehren wir zurück zu Pachamama, zu ihren Früchten und zu den Tieren, die sich diese Früchte mit uns teilen. Erheben wir uns mit der Kraft von La Gaitana, Pachamama wird es uns danken.

Versprechen

LeserInnen, die diese Andacht bei vollem Bewusstsein verrichten, wird ein vollkommender Ablass gewährt. Schuldhafte und unbewusste Beteiligungen am Raub unseres Goldes seien getilgt, wenn auch du Pachamama ehrst, wo immer du auch bist. Unsere Häuser sind für deine Besuche offen, nimm aber keine Kreuze mehr mit.


[1]Die Göttin Pachamama oder Mama Pacha (Quechua: „Mutter Welt, Mutter Kosmos“) gilt vielen indigenen Völkern Südamerikas, insbesondere in den Anden als personifizierte Erdmutter,[die Leben in vielfacher Hinsicht schenkt, nährt, schützt und zu ritueller Kommunikation fähig ist. Pachamama ist Vermittlerin zwischen Ober- und Unterwelt. Die Quechua und Aymara verehren die Pachamama als allmächtige Göttin, die allen Kreaturen das Leben schenkt und sie nährt.