Luis Stabauer

Leidensweg in 14 Stationen
(Text des Monats in LiteraturPlattform der Buchkultur, Heft 170/2017)

Sie weinten bitterlich

Da war einer seiner Zeit voraus. Auch im Irrtum. Er glaubte zu wissen, wohin er segelte, suchte einen Weg nach Indien, um neue Schätze zu suchen. Fragen hatten ihn angetrieben, die Antworten wollte er selbst finden. Mit Freiwilligen und mit Unfreiwilligen brach er auf, wollte über das große Wasser fahren. Seine Auftraggeber erwarteten neue Reichtümer, noch mehr Macht. Männer in langen, schwarzen Kutten und mit großen Kreuzen waren an Bord.

Drei unserer Götter sahen sie kommen, über das Wasser aus dem die Sonne steigt. Sie befürchteten Unheil für ihre Völker. Daher beriefen sie eine große Versammlung ein. Am Ölberg wollten sie mit allen die kommenden Gefahren für die Maismänner und Maisfrauen diskutieren, wollten Lösungen suchen. Niemand kam. Alle, die ihnen sonst zugejubelt hatten, die davor immer in ihrer Nähe geblieben waren, sie kamen nicht. Die Drei warteten einen halben Tag, dann knieten sie nieder und weinten eineinhalb Tage und zwei Nächte lang. Die Tränen erreichten die Ozeane. Die Götter wussten keinen Rat.

1.    Station: Wir werden zum Tod verurteilt

Sie landen mit riesigen Schiffen, sitzen auf Ungeheuern, die unentwegt mit ihren langhaarigen Schwänzen schlagen. Sie tragen Stöcke, die Feuer speien. Sie zeigen uns kleine Spiegel und Figuren von ihren Göttern.

Wir bringen ihnen Früchte und Schmuckstücke. Sie haben nur mehr Augen für unser Gold. Wir tauschen. Ist es unser Todesurteil?

2.    Station: Wir schleppen ihre Kreuze an Land

Die mit den langen, schwarzen Kutten wollen uns noch viele Spiegel und Perlenkränze geben, mit denen wir für unsere Gesundheit und für unsere Ahnen beten können. Aber davor müssten wir ihre Kreuze auf unseren Hügeln aufstellen. Wir laden die Kreuze auf unsere Schultern, graben tiefe Löcher und befestigen die Kreuze mit unseren Lianen. Für einige unserer Brüder und Schwestern ist die Anstrengung zu groß. Die Toten werden dafür in einem anderen Leben belohnt, sagen die in den schwarzen Kutten.

3.    Station: Wir fallen zum ersten Mal unter dem Kreuz

Sie sagen, wir haben keine Seele. Und weil wir keine Seele haben, dürfen sie uns schlagen, dürfen sie uns unser Land wegnehmen, dürfen uns als Diener und Sklaven verwenden, und sie dürfen uns wie Hunde erschlagen. Sie beten großen Kreuze an, worauf ein Mann genagelt ist, der angeblich für sie gestorben ist. Sie sagen, dass wir diese Kreuze auch anbeten sollen, und sie versprechen uns eine Seele, wenn wir schwören, nur ihrem Gott zu huldigen. Wir knien nieder und spüren das Kreuz über uns.

4.    Station: Wir erlauben ihnen, unsere Mutter Erde zu verwenden

Sie kommen als Forscher, sagen sie, und unser Land sei ein Paradies. Tomaten, Mais und Kartoffel kennen sie nicht, wir müssen sie für sie anbauen, und sie begleiten uns in unsere Wälder, um die süßesten Früchte zu ernten. Wir füllen damit die großen Bäuche ihrer Schiffe und geben auch Gold dazu. Sie geben uns keine Spiegel mehr. Dafür bauen sie Häuser mit Türmen und Kreuzen. Für uns, sagen sie.

Immer mehr Schiffe mit leeren Bäuchen landen, und sie sagen, dass unser Land jetzt ihr Land sei.

5.    Station: Bartholomäus de las Casas schickt uns schwarze Männer, die uns helfen, die Kreuze an Land zu schleppen

Unsere Brüder und Schwestern sterben zu Millionen. Auf ihren Plantagen, in ihren Bergwerken und in ihren Betrieben. Einer mit schwarzem Kittel sagt, er sei unser Freund und verspricht uns Hilfe durch die spanische Krone. Er schreibt Briefe und wird erhört. Schwarze Menschen kommen und sterben. Sie seien Sklaven, sagen sie, und sie wurden ebenfalls ohne Seele geboren. Wir danken Bartholomäus de las Casas noch immer. Die Schwarzen schleppen mit uns die Kreuze an Land.

6.    Station: La Gaitana will das Land ihres Volkes nicht teilen. Pedro Anasco ermordet ihren Sohn vor ihren Augen

Gaitana, du in den Dörfern Gewählte, du Auserwählte, dein Volk vertraut dir. Du hast sie auf Widerstand eingeschworen. Dann haben sie euch am Dorfplatz zusammengetrieben. Der Kopf deines Sohns rollt vor deine Füße. Sie sagen, es sei eine Warnung. Du schreist deinen Schmerz hinaus und schwörst Rache. Der Spanier versteht dich nicht. Jemand aus deinem Volk geht auf den Mörder zu, übersetzt ihm deine Worte. Monatelang jagen sie dich, töten beinahe alle aus deinem Dorf. La Gaitana, du kannst deinen Schwur einlösen. Ihr könnt ihren Anführer ergreifen. Pedro Anasco geht elend zu Grunde.

Dein Denkmal in Neiva ist Erinnerung und Mahnung: Noch immer tauschen wir unser Gold gegen leere Versprechungen.

7.    Station: Wir fallen zum zweiten Mal unter dem Kreuz

Wir haben nicht verstanden, warum unsere „Madre Patria“ („Mutter Vaterland“) die spanische Krone sein soll. Aber die Nachfahren der Eindringlinge aus Europa haben uns erklärt, dass wir uns mit ihnen gegen den Kolonialismus und gegen die spanische Monarchie wehren sollen: Wir ziehen in den Krieg. Sie sagen, dass wir Nationalstaaten gründen müssen, um frei zu sein. Wir kämpfen für ein Vaterland, für Freiheit, Religion und für Privateigentum. Wir tauschen unsere Mutter Erde, unsere Pachamama[1], gegen die Jungfrau Maria, die Mutter ihres Gottes. Wieder tragen wir ihr Kreuz. Wir beten in ihrer Sprache. Viele Tage lang und viele Kilometer weit lang rutschen wir auf unseren Knien zur Heiligen Jungfrau Maria. Das Kreuz steht neben ihr. Es drückt uns zu Boden.

8.    Station: Wir treffen die trauernden Frauen

Kurz nach unserer angeblichen Entdeckung schnitzt Tilman Riemenschneider Seelen in seine trauernden Frauen aus Holz. Sie beweinen den nahen Tod ihres Märtyrers am Kreuz. Tun können sie nichts.

Lange danach kommen auch zu uns Frauen und Männer, die uns bemitleiden. Sie nennen sich die wirklichen Freunde, nehmen uns die Panflöte, die farbigen Stoffe und bilden unsere Gesichter auf neuen Spiegeln ab. Sie sagen, wir seien so schön und sie betrauern unser Elend. Unsere Musik, unsere Webkunst und unsere Gesichter werden unsere Befreiung sein, sagen sie. Sie beweinen uns in Gesprächen, in Zeitungen, in Büchern und in Filmen. Die Trauernden werden immer mehr. Tun können sie nichts.

9.    Station: Wir fallen zum dritten Mal unter dem Kreuz

Langsam beginnen wir, uns zu organisieren. Die wirklichen Freunde erkennen wir an ihrer Solidarität. Neue Nachkommen der weißen Europäer kämpfen mit uns Seite an Seite gegen die Großgrundbesitzer und gegen die neuen Kolonialherren, die inzwischen aus dem Norden des eigenen Kontinents kommen. Wir feiern erste Erfolge, gewinnen sogar Wahlen und stellen Präsidenten. Wir werden ihnen gefährlich. Sie erinnern uns an unser Versprechen, die Nationalstaaten mit militärischen Mitteln zu verteidigen, und sie nehmen uns in ihre Kampfverbände auf. Sie schicken uns heimliche und unheimliche Hilfen aus den neuen Zentren der Macht. Unter unserem nationalistischen Kreuz kämpfen wir jetzt auch gegen neue Ungläubige, gegen angebliche Kommunisten und für die Erhaltung eines freien Marktes, der uns allen diene, wie sie sagen. Wir brechen darunter zusammen.

10.                  Station: Sie nehmen uns unsere Kleider

Viele unserer Brüder und Schwestern arbeiten freiwillig für sie. Manchen erlauben sie sogar, ihre Universitäten zu besuchen. Sie sagen, wir müssen lernen, wie sie zu denken und zu arbeiten, wir dürfen nicht länger unsere Sprachen reden, und wir müssen ihre Gerichte anerkennen. Viele von uns lassen sich das Haar schneiden, ziehen neue Kleider an und versuchen unsere Mütter und unsere Väter zu vergessen. Unsere Kleider und unsere Kultur dürfen wir an Touristen aus aller Welt verkaufen. Sie geben uns Almosen.

Mit alledem geben wir auch unseren Stolz ab. Wir sterben weiter.

11.                  Station: Sie nageln uns fest

Sie erziehen unsere Kinder in ihren Schulen. Sie sagen, dass wir als Sünder geboren wurden und dass wir nach dem Tod nur in das Paradies eintreten können, wenn wir alle unsere Sünden bereuen und wenn wir den einen Gott um Verzeihung bitten.

Wir lernen schnell und bitten täglich um Vergebung. Angesichts des Leidens am Kreuz, sagen sie uns in jeder Messe, dass unsere Unvollkommenheit unsere Schuld sei. Wir glauben und verharren. Wir warten, bis sie uns sagen, was wir tun sollen. Ihre Nägel schmerzen. Wir können uns nicht mehr bewegen. Wir hängen fest.

12.                  Station: Es gibt uns nicht mehr

Wir lieben unsere Mutter Erde, unsere Pachamama noch immer. Damit wir nicht zu ihr beten, haben sie uns die Heilige Jungfrau Maria gegeben. Wir lieben sie mehr als uns selbst. Wir beten sie an, wir tragen sie durch unsere Dörfer. Sie wird uns beschützen. Sie wird uns eines Tages von unserer Schuld befreien. Wenn wir zu unserer Mutter Gottes aufschauen, spüren wir: Wir sind andere geworden.

Wir leiden mit Jesus unter dem Kreuz. Wieviel stärker muss das Leiden der Heiligen Jungfrau sein, die den Tod ihres Sohnes betrauert. Ihr Schmerz ist unser Schmerz. Wir sind andere geworden. Es gibt uns nicht mehr.

13.                  Station: Sie ziehen uns die Nägel heraus

Sie betrachten uns von allen Seiten und stellen unseren Tod fest. Langsam ziehen sie einen Nagel nach dem anderen aus unseren Körpern. Wir wissen nicht mehr, warum wir angenagelt wurden. Wir vergeben ihnen und sagen, dass es unsere Schuld sei, und dass wir nicht aufhören werden zu Jesus am Kreuz und zu seiner Mutter, der Heiligen Jungfrau Maria, zu beten. Wir wissen nicht, ob sie uns noch hören, aber wir warten auf die Erlösung von unserer Schuld.

14.                  Station: Wir stehen auf

Hoch in den Anden, in den Wäldern Amazoniens, in den Hügeln Lacadonas, in den Prärien Nordamerikas, auf den Inseln der Karibik, von Patagonien bis zum Fluss Pio Pio:

Einige von uns leben noch. Mehr als 500 Jahre dauert unsere Immunität. Wir sind frei von eurem schlechten Gewissen. Die Zeit ist gekommen. Wir stehen auf. Wir erheben uns. Es kann gut sein, wir benötigen noch einmal 500 Jahre, aber wir beginnen jetzt.

Brüder und Schwestern, kehren wir zurück zu Pachamama, zu ihren Früchten und zu den Tieren, die sich diese Früchte mit uns teilen. Erheben wir uns mit der Kraft von La Gaitana, Pachamama wird es uns danken.

Versprechen

LeserInnen, die diese Andacht bei vollem Bewusstsein verrichten, wird ein vollkommender Ablass gewährt. Schuldhafte und unbewusste Beteiligungen am Raub unseres Goldes seien getilgt, wenn auch du Pachamama ehrst, wo immer du auch bist. Unsere Häuser sind für deine Besuche offen, nimm aber keine Kreuze mehr mit.

[1]Die Göttin Pachamama oder Mama Pacha (Quechua: „Mutter Welt, Mutter Kosmos“) gilt vielen indigenen Völkern Südamerikas, insbesondere in den Anden als personifizierte Erdmutter,[die Leben in vielfacher Hinsicht schenkt, nährt, schützt und zu ritueller Kommunikation fähig ist. Pachamama ist Vermittlerin zwischen Ober- und Unterwelt. Die Quechua und Aymara verehren die Pachamama als allmächtige Göttin, die allen Kreaturen das Leben schenkt und sie nährt.

 

 

So könnte es gewesen sein

 

„Liebe Kollegin“, sagt der Präsident, „Sie sind seit Jahren meine Vizepräsidentin. Stimmen Sie mir zu, dass Sie in diesem Amt auch eine Vorbildwirkung ausüben?“

„Ohne Zweifel, was veranlasst Sie zu dieser Frage? Wenn Sie mich auf mein Zeitungsinterview ansprechen, ich habe mit keinem Wort etwas zu unserem Prozedere bekanntgegeben. Und es tut mir leid, dass Sie mir Ihrer Meinung zur Wahlaufhebung unterlegen sind.“

„Nein, Frau Kollegin, das ist es nicht. Ich meinte, ob wir als Repräsentanten der Republik nicht auch im Umgang mit unserem Körper vorbildlich sein sollten.“

„Oh, Herr Präsident, ich verstehe. Sie meinen das einzige, was zwischen dem violetten Samtkragen mit weißem Kaninpelz und dem Barett hervorschaut. Ich habe es ein wenig anpassen lassen. Hätte ich Sie dafür vorher fragen sollen?“

Der Präsident reibt seine Hände, dann zieht er am Ohrläppchen, auch die Nase kommt dran. Diese Andeutung hätte er sich sparen können.

Er blickt zur Tür, die anderen Kollegen betreten nacheinander den Saal. Er hat mit ihnen eine Feedbackrunde zum Urteil der Wahlaufhebung vereinbart.

„Wir werden auch in Zukunft heikle Entscheidungen zu treffen haben und wir sollten unsere Beweggründe hinter den juristischen Überlegungen kennenlernen“, eröffnet der Präsident. „Selbstverständlich hat auch dieser Austausch geheim zu bleiben. Also bitte, wer beginnt?“

 „Ich gebe zu“, sagt einer, „ich hätte es schlecht ausgehalten, für die Bestellung eines Bundespräsidenten verantwortlich zu sein, der so ganz gar nicht meinem Weltbild entspricht und schließlich habe ich mich erinnert, von welcher Regierung ich 2002 bestellt worden bin.“

„Für mich ist klar gewesen“, sagte eine jüngere Kollegin, „die Verfehlungen sollten Anlass für unseren klaren Auftrag an die Regierung sein, in Zukunft für rechtlich einwandfreie Abwicklungen bei Wahlen zu sorgen. Für eine Wahlwiederholung gibt es keinen logischen Grund.“

Nacheinander melden sich noch zehn Damen und Herren zu Wort. Die Argumente, warum die juristische Beurteilung zur Wahlwiederholung führen sollten und warum nicht, halten sich die Waage.

„Dann muss ich wohl“, sagt die Vizepräsidentin, „auch ich weiß, warum ich Vizepräsidentin bin. Und haben wir als oberstes juristisches Gremium nicht im besten Sinne des Wortes konservierend, also konservativ zu sein? Zur Untermauerung habe ich mit dem Verantwortlichen aus dem großen, konservativen Klub ein Gespräch geführt. Wir dürfen nicht an der gesetzgebenden Körperschaft vorbeientscheiden. Meine Meinung wird von diesem Herrn geteilt und unterstützt. Wir können uns in Österreich keinen Präsidenten leisten, dessen Familie selbst eine Flüchtlingsgeschichte hat und der für die Hälfte der Bevölkerung unakzeptabel wäre. Wir müssen auch an künftige Wahlen und an mögliche neue Koalitionen denken. Ich kann nicht anders, als für einen zweiten Versuch in der Stichwahl zum Bundespräsiden zu sein.“

Der Präsident schließt die Zusammenkunft: „Ich danke Ihnen für die Offenheit. Sie kennen meine Meinung, aber ich habe in diesem Verfahren kein Stimmrecht. Sie hätte den Gleichstand nur prolongiert. Ob ich diesem Gremium noch weiter angehören will, werde ich in den nächsten Wochen entscheiden.“
 

Kapitalistenschweine

Wie würde Thomas Mann die heutige Politik in Europa einschätzen und würde er im 21. Jahrhundert als Literat Anerkennung bekommen, oder den Nobelpreis?

Seit dem Besuch auf der Ostseeinsel Hiddensee begleitet er mich auf meiner Norddeutschlandreise. Auch seine Familie. Er hätte sich sein bürgerliches Leben ohne die väterliche Rente aus Zinsen des angehäuften Besitzes gar nicht leisten können. Hat ihn sein Vater mit seinem Vermächtnis doch noch zu einem anerkannten Mitglied des Bürgertums gemacht, obwohl, oder weil er in seinen wilden Jahren sozialistische Tendenzen zeigte?

Es ist gut möglich. Das Buddenbrock Haus in Lübeck ließ früher Gelesenes, Verschwommenes, oder nur mehr Geahntes neu auferstehen. Die lebenslustige Mutter, der verachtet und geliebte Bruder Heinrich, die stille Ablehnung des Vaters und des Bürgertums, die Thomas Mann mit seinem Hauptwerk, „Die Boddenbrocks“ verarbeitet hatte. Sein Leben war dann doch bürgerlich. Seine gesellschaftskritische Einstellung hatte er 1914 mit der Kriegsbefürwortung (wie viele andere Intellektuelle) auf Eis gelegt.

Wurden ihm die ambisexuellen Neigungen verziehen, weil man darüber nicht ernsthaft sprechen wollte, weil er damit nicht aus den Normen ausgebrochen war (Ehe und Kinder), oder weil er berühmt geworden war?

Thomas Manns Zeit in München war wilder und freier als jene in Lübeck. Es war der Aufbruch und der Versuch Neues mit der Räterepublik umzusetzen. Sein Bruder Heinrich hatte nicht nur den Ersten Weltkrieg abgelehnt, er war auch bekennender Linker. Erich Mühsam und der Versuch als Bohemien in München zu leben prägten Thomas nur wenig. Mit den Geldern aus dem Familienbesitz und dem „Zubrot“ des Nobelpreises1929, wurde ihm das bürgerliche Leben wieder wichtiger. Er wurde Instanz für andere Schriftsteller, für das kulturelle Leben in Deutschland – bis die Nazis an die Macht kamen. Sie hatten Erich Mühsam bereits 1934 im KZ Oranienburg ermordet, und die Familie Mann in viele Teile der Welt vertrieben.

Heute sind sie wieder alle vereint, im Buddenbrock Haus in Lübeck, im Ratskeller zu Lübeck und geistig auch in den vielen Kulturaktivitäten Lübecks. Am 12. September 2015 fand die „Theaternacht in Lübeck“ statt. Im Theatersaal eines Schiffes an der Trave endete der Abend für mich mit der Ehrung der „Kapitalistenschweine“, die besondere Form einer Publikumsbeteiligung, in der lokale Kunstdarbietungen über das Füllen von Sparschweinen gekürt werden.
 

Am See                                           

Am 20. März war Pepperl dreizehn geworden. Am Abend davor hatte sie wieder einmal die Eifersuchtsszenen und das Türenschlagen gehört. Was konnte das für ein Geburtstagsfest werden? Vati hatte ihr dann doch eine Ansichtskarte an die Oblatentorte gelehnt.
Meine Große, sagte er und zeigte ihr das Haus auf der Karte, ich habe für deine letzten Schulferien einen herrlichen Sommerplatz gefunden. In diesem alten Jagdhaus am See kannst du sechs Wochen bleiben. Jetzt ist es ein Gasthaus, in dem du ein wenig mithelfen und dir dein erstes Geld verdienen kannst.
Die drei Kleinen warteten vor ihren Tellern. Pepperl nahm das lange Brotmesser, es war wichtig, gleich große Stücke abzuschneiden. Die Oblaten bogen sich durch, die Schokocreme quoll heraus. Da musst du bis zum Sommer noch einiges lernen, sagte Vati, und zu Mutti: Da, schau, wie soll die im Gastgewerbe arbeiten? Nicht einmal Tortenschneiden hast du deiner Tochter beigebracht. Vati aß nur ein halbes Stück, dann mahnte er Ruhe ein, es sei Zeit für seinen Mittagsschlaf. Wenn am Vorabend die Türen flogen, brauchte er seinen Schlaf umso dringender, das wussten alle.
Als er weg war, nahm Pepperl die Karte, drehte und wendete sie, Restaurant Seewiese stand auf der Rückseite. Wo ist das, warum muss ich immer arbeiten? Ich will doch mit meinen Freundinnen in der Ager baden. Mutti erklärte ihr die Situation: Vati habe die Treibenreif Rosi im Café Kettinger getroffen und ihr versprochen, seine älteste Tochter im kommenden Sommer zu ihr in die Seewiese zu schicken. Warum er das versprochen habe, wisse sie auch nicht, sagte Mutti, aber sie solle sich keine Sorgen machen, sie werde sie nach Altaussee bringen und auch wieder abholen. Mit dem Zug würden sie bis Bad Aussee fahren, dann mit dem Postbus bis Altaussee, dort würde sie jemand von der Seewiese abholen. Die Hälfte des Geldes dürfe sie behalten. Die andere Hälfte sei für die Fahrt und ein schönes Dirndl, das müsse sie bei der Arbeit unbedingt tragen.
Am Samstag nach Schulschluss war es soweit. Mit dem ersten Zug fuhren sie in Kammer-Schörfling ab. Lenzing, Vöcklabruck, Attnang-Puchheim und Gmunden kannte sie noch, danach waren Pepperl die Orte nur aus dem Schulatlas bekannt: Traunkirchen, Ebensee, Bad Ischl, Bad Goisern und dann den Hallstätter See entlang. Durch enge Schluchten kamen sie nach Bad Aussee. Auch Mutti schwieg während der Fahrt. Der Postbus wartete am Bahnhofsvorplatz. Gemächlich fuhren sie durch Bad Aussee und weiter nach Altaussee. Dort mussten sie nach dem Weg zur Schiffsanlegestelle fragen. Pepperl hatte noch nie so viele Männer in kurzen Lederhosen gesehen. Daheim in Schörfling gab es nur wenige Männer in Tracht. Einer von ihnen war der Deutsch- und Geschichtelehrer. Pepperl mochte ihn. In der Gegend um Altaussee habe es kommunistische Partisanen gegeben, hatte er ihnen kürzlich erklärt, wahrscheinlich alles Juden, hatte er hinzugefügt, sie hätten im Mai sogar den Eichmann aus Argentinien entführt. Gibt es da immer noch Partisanen, fragte Pepperl. Dummes Diarndl, sagte Mutti nur.
Mitten im Ort rann frisches Quellenwasser in einen Holztrog. Sie tranken aus dem bereitgestellten Trinkglas und gingen gemeinsam zur Schiffsanlegestelle hinunter. Pepperl war froh, dass Mutti bei ihr war.
Eine ältere Frau in einem langen Dirndl mit Halstuch kam auf sie zu: Ich bin die Hertha Treibenreif, die Schwester von der Rosi, du musst die Erna sein. Mutti nickte, das ist Pepperl, die Ihnen sechs Wochen im Gasthaus helfen wird. Restaurant Seewiese, korrigierte die Frau. Pepperl starrte auf die Warze neben der Oberlippe. ........